84
Aus dem Archiv der Deutschen Seewarte — 1901 No. 1 —
und in der Mitte der vordersten Leiste, aber auch an 3 anderen Stellen. Auch die Herren Marvin und
Teisserenc de Bort äussern sich (mündlich) sehr befriedigt über den ruhigen Flug der Zellendrachen auch
in starkem Winde.
Meine eigenen Erfahrungen waren bis zum Herbst 1899 nicht so günstig, und da sie in lehrreicher
Weise gegen die Verwendung biegsamer Drachen sprechen, will ich sie hier erwähnen. In Ermangelung
eines erprobten Modells, meine eigenen Wege suchend, hatte ich einen grossen Kastendrachen von 5 qm
Tragfläche gebaut, der zusammenlegbar und elastisch biegsam war. Dieser flog zwar bei Winden von 5 bis
8 m pro Sek. (am Erdboden) sehr befriedigend, bei stärkeren aber erwies er sich unruhiger als ein Gespann
von Malay-Draclien und zeigte tlieils stürmische Aenderungen im Azimut und in der Höhe, tlieils das ver-
hängnissvolle dauernde Neigen nach einer Seite. Am 24. September 1899 wurde er und ein 2 ! /j qm grosser
Malay-Drache um ll h ll a. m. hochgelassen, jeder mittels besonderer Leine an die Endkausch des Drahts
gebunden, an der auch der Meteorograph von Richard hing. Die Windgeschwindigkeit war im Mittel der
Stunde 11—12 h a. m., auf der Seewarte 13.2 m pro Sek. Auf der Höhe von 50 bis 200 m über dem Boden
(400 m Draht) ging die Sache sehr gut, dann aber begann der Zellendrachen tolle Bewegungen, während
der (mit Schwanz versehene) Malay ruhig stand; ersterer legte sich bald nach rechts, bald nach links zur
Seite, ja sogar auf den Rücken, wobei er unter die Kausch herabsank. Fig. 79 A und В zeigt ihn in zwei
solchen Lagen. Dazwischen kam er immer wieder hoch. Beim allmählichen Einholen, wobei die Drachen
aus NE, wo sie anfänglich standen, nach N übergingen, wurde, als nur noch 120 m Draht ausstanden, auch
der Malay-Drache unruhig, der Zellendrache berührte den Boden und musste abgebunden werden, wie auch
das Instrument, das der Malay-Drache noch über dem Boden erhalten hatte; hierauf stieg der letztere
wieder, und konnte regelrecht mittels der Winde eingeholt werden.
Dieser Mangel an Stabilität bei starken Winden wurde von den Herren Rotcli und Teisserenc de Bort
bei deren erstem Besuche des Drachenplatzes der Seewarte am 4. und 9. Oktober 1899 übereinstimmend
der nicht genügenden „Regidität“ des betreffenden Drachens zugeschrieben. Von den vollkommen steifen
Zellendrachen, die im Besitz der Seewarte sich finden, ist der älteste, schon 1898 erbaute, wenig zur Ver
wendung gekommen, weil er nur l'/ 4 qm Tragfläche und also wenig Tragkraft hat; doch ist er wiederholt
bei frischem Winde gut geflogen; der zweite grosse, aus Washington verschriebene Drache dieser Art kam
erst am 14. Oktober 1899 an, konnte erst am 25. aufgelassen werden und zerbrach, nach sehr gutem Fluge,
in einem Winde von 12 m pro Sek. beim Landen 11 von den 44 Stäben seines Gestells, so dass er einer
Reparatur von 6 Arbeitstagen bedurfte. Auf dieselbe Weise, nämlich durch Kopfüber-Stürzen hatte auch
der eben erwähnte 1 г / 4 qm-Drache einige Tage vorher seine vordere Zelle zerschmettert.
Seitdem ist aber nicht nur dieser Marvin-Drache viele Male vortrefflich geflogen, sondern auch die
ebenso steifen Drachen von 3 bis 4 qm Tragfläche, die im Sommer 1900 unter meiner Leitung erbaut sind,
erweisen sich in starkem Winde als vollkommen stabil — ein Beweis für die Richtigkeit der Bemerkungen
der Herren Rotch und Teisserenc de Bort.
Seit dem 8. November 1899 sind auch in Hamburg zahlreiche gute Aufstiege mit dem Marvin-Drachen
gemacht worden, wobei er sich, mit wenigen gleich zu beschreibenden Ausnahmen, als ausserordentlich stabil
erwiesen hat, auch bei Winden, die schon auf der Höhe des Thurmes der Seewarte 10 m überstiegen. In
der untersten, bis zu 100 oder 200 m Höhe reichenden Luftschicht muss er freilich deren unregelmässigen
Bewegungen folgen, höher hinauf aber steht er meist wie angenagelt am Himmel. Welchen Windgeschwindig
keiten der Drache selbst dabei ausgesetzt war, kann ich nicht angeben, da das Anemometer bei starkem
Wind meistens versagt hat. Am 15. November 1899 und am 1. September 1900 machte der Marvin-Drache
in der Höhe von 700—1300 m wilde Bewegungen, wobei er sehr starken und unregelmässigen Zug auf den
Draht ausübte; im ersteren Falle beruhigte er sich nach einer halben Stunde, stieg ohne Auslassen des
Drahtes wieder von ca. 750 m auf über 1000 m und konnte nun ruhig eingezogen werden; im letzteren Falle
dagegen ist schliesslich der Draht dicht unter dem Drachen zwischen der Kausch und der Splissung ge
brochen und der Drache weggeflogen. Beide Male war der Drache am oberen Ende des Drahtes und erst
900 bis 1500 m von ihm ein zweiter Hilfsdrache an diesem befestigt. Von den Fällen, in denen an den
Rücken des Marvin-Drachens ein Malay-Drache befestigt war, zeigte in zweien der erstere sich beim ersten
Auflasseu unruhig, so dass er eiugezogen und der Malay-Drache entfernt wurde; wahrscheinlich lag es an
ungeeigneter Anbringung desselben, denn in vielen andern Fällen ist ein solches Gespann sehr gut 600 bis
1400 m hoch geflogen und hat vortrefflich zarte, ruhige Meteorogramme heimgebracht.