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Aus dem Archiv der Deutschen Seewarte — 18!)(? No. 4 —
aufsteigenden Luftsäule trockenes Eis auzunehmen. In dem Experiment werden die reibenden Wassertheil-
chen sehr schnell von dem geriebenen Eisblock weggeführt und so die Trennung der beiden Elektrizitäten
befördert. Aus Sohncke’s Erklärung geht nicht hervor, dass in der Natur solch eine schnelle Trennung
der sich reibenden Körper stattfindet. Im Gegentheil, man hat Grund, anzunehmen, dass die Luftschichten
in der von ihm vorausgesetzten meteorologischen Erscheinung viel langsamer aneinander Vorbeigehen.
Endlich kann man gegen das Experiment anführen, dass dadurch die Elektrizitäts-Erregung durch Reibung
der Wassertheilchen an einem Eisblock gezeigt ist, doch keineswegs, dass dies der Fall zu sein braucht,
wenn Wassertröpfchen sich reibend mit Eisnadeln der Cirruswolken berühren oder wenigstens mit Hagel
körnern. Dieses Bedenken hat jedoch unseres Erachtens weniger zu bedeuten. Wichtiger ist, dass Sohncke
beide Hauptbedingungen, die schnelle Bewegung und die rasche Ausdehnung mit der daraus folgenden Ab
kühlung, beides Hauptbedingungen für das Gelingen des Experimentes, nicht als in der Natur beim Gewitter
vorkommend gezeigt hat, und weiter, dass er eine meteorologische Erklärung gegeben hat, wobei die rasche
Bewegung und die plötzliche Ausdehnung gewiss nicht vorhanden sind.
Der meteorologische Theil der Sohncke’sehen Theorie insbesondere ist noch den folgenden Bedenken
ausgesetzt. Er setzt wohl eine bekannte Eintheilung der Gewitter in Wärme- und Wirbelgewitter an die
Spitze, doch behandelt er nur erstere. weil sie, ihm zu Folge, die bekanntesten seien. Die meteorologischen
Betrachtungen gelten ausschliesslich für lokale Wärmegewitter. Nichts von dem, was er anführt, ist an
wendbar auf die besonders durch Ivöppen’s 31 ) Studien bekannten Böen und ebenso wenig auf die Winter
oder Sturmgewitter.
Sich stützend auf die Beobachtungen von Ivämtz, betrachtet Sohncke Halo’s als beständige Vorläufer
der Gewitter. Auch Ilann beschreibt Cirro-stratus-Schleier, deren Eisnadeln die Höfe hervorrufen, als
immer dem Gewitter vorangehend. Das Vorhandensein dieser Wolkenformen bei jedem Gewitter ist jedoch
sehr zweifelhaft. In den Tropen, wo Gewitter am meisten Vorkommen, sind Ilalo’s äusserst selteu. Die Be
obachtungen in den Niederlanden 3 ') deuten auch darauf hin, dass Halo’s und cirro-stratus keine beständigen
Begleiter der Gewitter sind. Die Monate Juni und Juli sind die gewitterreichsten, jedoch arm an Halo’s,
welch letztere ungefähr im April und Oktober, wenn Gewitter bereits selten sind, am häufigsten sind. In
den Polargegenden, wo Halo’s am häufigsten sind und deshalb eine reichfliessende Quelle der Elektrizität
vorhanden sein soll, sind dagegen Gewitter äusserst seltene Erscheinungen.
Nach Beobachtungen Reimann’s 39 ) können oberhalb des Gewitters sehr hohe Temperaturen Vor
kommen, und diese sind nicht in Einklang zu bringen mit Sohncke’s Theorie. Die Beobachtungen in den
Niederlanden haben gelehrt , dass viele Gewitter unmittelbar gefolgt werden von schönen Luftspiegelungen,
welche auf das Vorhandensein dünnerer, also wärmerer Luft in höheren Schichten hinweisen, und wie
Reimanu’s Beobachtungen mit Sohncke’s Theorie in Widerspruch sind, so sind auch die Resultate der
Wolkenmessungen von Eckholm und Hagström. 40 ) Die Gipfel der Kumuli sind durchschnittlich 8000 m
hoch, ja einmal 5000 m (25. Juli 1884). Die echten Cirri kommen niemals unter 6000 m vor. Weiter ist
Sohncke’s Theorie auch nicht in Einklang zu bringen mit all’ den Beobachtungen, welche auf ein sehr
tiefes Vorbeiziehen der Gewitter deuten. Am deutlichsten ist diese Thatsache von Ferrari 41 ) gemacht.
Nach ihm befindet sich die grösste Temperatur-Erniedrigung, also der Sitz des Gewitters, in einer Höhe
von 500—-900 m. Und man wird doch wohl auf dieser geringen Höhe keine Isothermfläche Null annehmen
können. Das Faktum, dass kein verheerender Hagelschlag vorkommt ohne Gewitter, wie u. a. von Lang
und Horn 42 ) aus den Bayerischen Beobachtungen gezeigt worden ist, wird von Sohncke als günstig für
seine Theorie betrachtet, ist aber auch mit anderen Erklärungen im Einklang.
Schliesslich mögen noch die beiden folgenden Bedeuken gegen die Theorie von Sohncke hier eine Stelle
finden. Erstens: Vorausgesetzt, die Reibung der Wasser- und Eistheilchen in oder entlang der Cirri-Sehleier
sei die Quelle der Elektrizität, dann fragt es sich, weshalb die heftigsten Blitzstrahlen nicht zur selben Zeit
wie das Eintreffen der Cirri-Sehleier für einen bestimmten Ort Vorkommen, sondern immer vorangehen oder
folgen. Zweitens: Obschon Sohncke nur eine bestimmte Art, die Wärmegewitter, ins Auge fasst, so ist seine
Theorie doch nicht im Stande, von den höchst interessanten Nebenerscheinungen dieser, sowie für die Baro
meterschwankung, plötzliche Abkühlung, Windstösse, Isobrontenform u. s. w. eine Erklärung zu geben.
Kurze Zeit vor dem Erscheinen der Sohncke’sehen Theorie hat der italienische Ingenieur Jean
Luvini 43 ) eine Hypothese der atmosphärischen und Gewitter-Elektrizität veröffentlicht, welche sich, was
den physikalischen Theil anbetrifft, auf dieselben Experimente Faraday’s stützt und als Quelle der Elektrizität