VI
Aus dem Archiv der Deutschen Seewarte
unter den Anforderungen mehrere von denjenigen Methoden nicht enthalten oder nur oberflächlich berührt,
welche für die Navigirung in unseren Tagen von hervorragender Bedeutung sind; so sei nur der Methode
von Sumner, der Chronometerstand-Bestimmung beim Passiren von Land, als in diese Kategorie gehörig,
gedacht.
Der Absicht, diesen Standpunkt hei den Nautikern, besonders den jüngeren, festen Fuss fasseu zu lassen
und die Prüfungs- und Schulnautik in Einklang mit der Praxis auf See im weiteren Sinne zu bringen, ist die
Bearbeitung der einzelnen Monographien dieses Bandes entsprungen. Naturgemäss musste sich bei der Aus
führung dieser Absicht die Frage aufdrängen, ob die bisher gebräuchlichen Reduktions-Methoden in allen
Theilen dieser Praxis entsprechen. In dieser Beziehung kann die Direktion annehmen, dass sie sich in voll
ständiger Uebereinstimmung mit allen denjenigen Nautikern befindet, welche ihre wissenschaftliche Vorbil
dung nicht aus dem engen Kreis eines nach beschränkten und einseitigen Gesichtspunkten bearbeiteten Werkes
schöpfen, sondern aus wissenschaftlicher Erkenntniss, die zum Beherrschen auch dieses Zweiges der aus
übenden Astronomie anleitet.
Es wird dem angestrehten Zwecke förderlich sein, wenn wir die Gesichtspunkte, von welchen aus die
Monographien dieses Bandes bearbeitet sind, kurz zusammenfassen. Es lassen sich dieselben durch fol
gende 3 Sätze ausdrücken, in deren Sinn diese Arbeiten vorbereitend wirken sollen:
1. Auf dem Gebiete der Nautik ist alles das, aber auch nur das zu lehren, was an Bord Verwen
dung finden kann.
2. Von den mathematischen Vorkenntnissen ist nur dasjenige zu nehmen, was zum Verständnisse des
unter 1. fallenden nautischen Stoffes gehört; dieses aber auch ohne Dressur, aus dem Verständnisse heraus.
3. Die Beduktions-Methoden müssen einfach und übersichtlich, wenn auch etwas weniger genau, sein.
Diese Ansichten hatte die Direktion in dem Lehrkurse vertreten und erachtet sie sich denn auch nach
dieser Thatsache berechtigt, um nicht zu sagen berufen und verpflichtet, mit ihren Erfahrungen nicht zurück
zuhalten und diese Abhandlungen einem weiteren Kreise einsichtsvoller Nautiker zugänglich zu machen.
Als die Direktion schon mitten in der Bearbeitung des ihr gewordenen Auftrages war, erlangte sie
Kenntniss von Bestrebungen, die im Auslande zur Umgestaltung der nautischen Astronomie in’s Werk ge
setzt worden sind. Wer die periodische Literatur fast sämmtlicher maritimer Staaten mit einiger Aufmerk
samkeit verfolgte, dem konnte nicht entgehen, dass überall nach Vereinfachung und Kürzung der rech
nerischen Behandlung nautischer Aufgaben gestrebt wurde. Besonders trat dies hervor in der französischen
Literatur, wie sie in den verschiedenen Werken über nautische Astronomie enthalten ist, und in kleineren
oder grösseren Aufsätzen periodischer Schriften niedergelegt sich findet. Die zahlreichen einschlägigen Auf
sätze in der Revue maritime et coloniale und den Annales hydrographiques legen hierfür ein Zeugniss ab;
aber es würde auch nicht schwierig fallen, Belege für die Kundgebung dieses Bestrebens in der englischen,
holländischen, italienischen und — jüngst auch — der spanischen Literatur zu finden. Auch in den deutschen
fachmännischen Zeitschriften begann sich seit einiger Zeit das Bestreben nach Kürzung und Vereinfachung
der nautisch - astronomischen Methoden zu regen. Was aber den Kernpunkt der Frage am gründlichsten
beleuchtete und einen kräftigen Impuls zum Weiterschreiten auf dem durch den Lehrkursus an der See
warte angebahnten Wege gab, war ein „Aufruf“, welchen der bedeutende Dorpater Astronom Staatsrath
W. Döllen bei Gelegenheit der hundertsten Wiederkehr des Jahrestages der Geburt von Wilhelm Struwe
als Festschrift*) zur Umgestaltung der nautischen Astronomie am 3./15. April 1893 erliess. In diesem
epochemachenden Dokumente wird mit gründlicher Fachkenntniss und rückhaltloser Schärfe gegen den
’) Aufruf zur Umgestaltung der nautischen Astronomie u. s. w. von W. Döllen, Dorpat 1893.