Dr. H. Rauschelbach: Harmonische Analyse der Gezeiten des Meeres. I. Teil.
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Wird dieser Weg bei der Aufstellung der Zeilenverzeiehnisse berücksichtigt, so werden diese
hierdurch allerdings etwa den doppelten Umfang annehmen, abgesehen von der Vermehrung der
Zeilen durch die bereits erläuterte Ausnutzung der gesamten Beobachtungen. Die benutzten Zeilen
werden bei den einzelnen Tiden zu zwei oder mehr Gruppensätzen zusammengezogen, deren Gesamt
gewicht sich der Anzahl der verwandten Zeilen möglichst zu nähern hat.
Zur Ermittlung der gesuchten Tide ist jedoch für jeden Satz eine besondere Störungsrechnung
notwendig. Diese Mehrarbeit bringt aber den Vorteil, daß aus den Beobachtungen eines Jahres
mehrere unabhängige Werte für jede Tide erhalten werden, die zu einem Mittelwert vereinigt werden
können, deren innere Übereinstimmung anderseits aber auch einen Schluß auf das wirkliche Vor
handensein der errechneten Tide zuläßt. Wird bei der Ermittlung der Tiden nämlich nur ein
Wert gefunden, so besteht bei den Tiden mit weniger großer Amplitude immerhin die Unsicherheit,
ob die erhaltenen Werte nicht nur Rechnungsgrößen sind.
Da die Arbeit des Ausschreibens der Zeilen nach meinen Angaben wesentlich vermehrt wird,
werde ich später ein Verfahren angeben, wie diese Arbeit wenigstens bei Vorhandensein einer
Rechenmaschine, ohne die eine solche Arbeit wohl kaum noch in Angriff genommen wird, umgangen
werden kann.
3. Grundlage der harmonischen Analyse der Gezeiten.
Die auf die Wassermassen der Erde wirkenden fluterzeugenden Kräfte rühren von der Anziehung
des Mondes — wegen seiner geringen Entfernung — und der Sonne — wegen ihrer großen Masse
— her. Nach der Lehre von den Gezeiten lassen sich die fluterzeugenden Kräfte durch die Ent
fernungen der fluterzeugenden Gestirne vom Erdmittelpunkt, durch ihre Massen, durch ihre geo
zentrischen Zenitdistanzen und den Erdhalbmesser am Beobachtungsorte angeben. Diese Größen lassen
sich einmal durch die astronomischen Angaben ersetzen, durch die die Stellung dieser Gestirne am
Himmel bestimmt ist, nämlich durch den Stundenwinkel, die Abweichung und die Parallaxe dieser
Gestirne, ferner durch die Größen, durch die ihre Stellung zum Beobachtungsorte gegeben ist; da
in den Stundenwinkel schon die Länge des Ortes auf der Erde eingeht, genügt es, diesen nur noch
durch seine Breite festzulegen. Abweichung und Stundenwinkel oder die um Sternzeit verschiedene
Geradeaufsteigung der Gestirne sind durch Breite und Länge, bezogen auf die Ekliptik, ausdrückbar.
Nun läßt sich die Länge, Breite und Parallaxe des Mondes außer durch
t = Stundenwinkel der mittleren Sonne oder mittlere Sonnenzeit am Beobachtungsorte
durch die folgenden fünf auf die Ekliptik bezogenen Veränderlichen — nach der in der harmonischen
Analyse allgemein angenommenen Bezeichnungsweise —
5 = mittlere Länge des Mondes,
p = Länge des Mondperigäums,
N = Länge des aufsteigenden Mondknotens,
h = mittlere Länge der Sonne,
— Länge des Sonnenperigäums,
darstellen; ebenso kann die Länge und Parallaxe der Sonne als von h und p\ abhängig wieder
gegeben werden.
a. Wahl der Ekliptik als Bezugsebene.
Doodson 1 ) benutzt bei seinem Verfahren der Entwicklung der fluterzeugenden Kräfte die Er
gebnisse der neuesten Brownschen Mondtheorie. Da Browns 2 ) rechnerische Ausdrücke für die
Länge, Breite und Parallaxe des Mondes, bezogen auf die Ekliptik, rein harmonische sind, so können
nach Doodsons Verfahren die fluterzeugenden Kräfte durch eine Reihe ausgedrückt werden, deren
Glieder sämtlich aus dem Produkt einer von der Zeit unabhängigen Größe und dem Kosinus eines mit
') Ä. T. Doodson, The Harmonie Development of the Tide-generating Potential. Proceedings of the Royal Society
of London, A, Vol. 100, 1921.
2 ) Ernest W. Brown, Theory of the Motion of the Moon; containing a New Calculation of the Expressioris for the
Coordinates of the Moon in terms of the Time. Memoire of the Royal Astrohomical'Society, Vol. 57, Part 2, 1905.