Annalen der Hydrographie und Maritimen ‘Meteorologie, Januar 1926
Sowohl die Halbtags- als auch die Eintagstiden haben also an der ganzen jen-
seitigen Küste des Arktischen Meeres außerordentlich kleine Amplituden, von
einem Schwingungsbauch zeigt sich keine Spur. Damit fallen alle aus
obiger Voraussetzung abgeleiteten Resultate, die auch tatsächlich in keiner Weise
mit den Beobachtungen stimmen. Bei den Azoren ergeben z. B. die Beob-
achtungen einen Schwingungsbauch der Halbtagstiden; Defant findet jn ihrer
Nähe eine Knotenlinie! Außerdem sind aber alle diese Rechnungen m. E, in viel
zu rohen Annäherungen durchgeführt, als daß man aus ihnen, selbst wenn ihre
Grundlage richtig wäre, einen Schluß auf die Realität der Ergebnisse ziehen könnte,
Es soll hier zunächst, so exakt als es überhaupt möglich ist, der Nachweis
geführt werden, daß eine Theorie bloßer Längs- und Querschwingungen keines-
falls imstande sein könnte, die von Süden nach Norden fortschreitende Welle
im südlichen Atlantischen Ozean, wie sie die Beobachtungen unzweifelhaft
erkennen lassen, zu erklären. (Vgl. Fig. 1, die die Flutstundenlinien des Atlanti-
Fie. 1 schen Ozeans in Greenwicher Zeit nach
8. dr meiner Zeichnung in den Ann. d. Hydr.
1920, Taf. 12 wiedergibt.) Für diesen Zweck
genügt es, mit der Untersuchung etwa bei
[sland zu beginnen und von den noch
nördlicher liegenden Gebieten, von deren
Gezeiten wir ja nur recht wenig wissen,
ganz abzusehen.
Bei Island selbst herrschen infolge
der sehr geringen Meerestiefen, die wir
südöstlich dieser Insel aorfinden, ziemlich
komplizierte Verhältnisse, Auf diese
brauchen wir auch nicht näher einzu-
gehen; wir betrachten sogleich das sich
in südwestlicher Richtung an Island an-
schließende Gebiet jener großen Amphi-
dromie, die den ganzen nördlichen Atlan-
tischen Ozean beherrscht (Figur 1). Ihr
Zentrum habe ich auf Grund der Beob-
achtungen an der Stelle # = 54° N,
ii = 34° W angenommen (Ann. d, Hydr.
üasw. 1920, S, 398), vielleicht entspricht
= 563°N, 4 = 30° W den Tatsachen noch
etwas besser (vgl. Fig, 1). Die von Defant
angenommene Lage gı = 46° N, 1= 33° W
ist m, E. ganz unmöglich. Nach ihr müßte
die nordwestlich von Irland gelegene Insel
Rockall (g = 57.6° N, 4 = 13.7” W) statt
einer Hafenzeit von 4.3h eine solche von
5.6h (Greenw.) aufweisen, wenn man die
Stundenlinien nicht mit Harris, der das
Amphidromiezentrum bei g = 40° N, 4 = 40° W annimmt, einen ganz unnatürlichen
Verlauf nehmen lassen will. Tut man aber letzteres, so könnte schon in dem
Gebiete dieser großen Amphidromie nicht von Längs- und Querschwingungen des
Atlantischen Ozeans die Rede sein.
Wir untersuchen hier zunächst nur, ob sich etwa von dem genannten
Amphidromiezentrum an bis zum südlichen Ende des Atlantischen Ozeans
die beobachteten halbtägigen Gezeitenerscheinungen durch Längs- und Quer-
schwingungen erklären lassen. Ist dies, wie ich zeigen will, nicht der Fall, so
muß eine solche Theorie jedenfalls auch für den gesamten Atlantischen Ozean
als unzureichend bezeichnet werden.
i. Ausmessung des Atlantischen Ozeans. Meine Rechnungen beruhen auf
möglichst genauen Ausmessungsresultaten, die aus der Grollschen Tiefenkarte‘!)
1) Veröffentlichungen des Instituts für Meereskunde, Neue Folge A. Heft 2. Berlin 1912.