senkrecht auf das Ufer zuströmt, so ist dies der Fall, den wir an allen Küsten
beobachten, und so erklärt sich die oben erwähnte weitverbreitete Ansicht, dass
Hochwasser und Stillwasser überall zusammenfallen müssen, von selbst, Entfernt
von der Küste: sollten wir aber in grösserer oder geringerer Reinheit das
Gesetz der ungestörten Welle finden, je nach dem Grade der Beeinflussung,
welche sie durch die Begrenzung ihres Bettes erfahren hat. .
4. Die Welle wird, der Theorie zufolge, in der soeben auseinandergesetzten
Weise beeinflusst:
a) durch Verengung des Bettes, in welchem sie sich bewegt, also z. B.
wenn die Welle aus dem Ocean in einen Kanal tritt, dessen Ufer
sich mehr und mehr nähern („Tides and waves“, Art. 257),
durch Verflachung des Bettes, in der Richtung, nach welcher die
Welle fortschreitet („Tides and waves“, Art. 238 ff.),
durch die Reibung des Wassers an den Wänden und dem Boden
des Kanals. ©.
Die entgegengesetzten Ursachen werden auch die entgegengesetzten
Wirkungen haben, z. B. wird eine Erweiterung des Kanals die Wirkung einer
früheren Verengerung wieder aufheben.!). .
—_ Fhe wir zur Erklärung der hier in Rede stehenden Strömungserscheinungen
durch die vorstehenden, der theoretischen Untersuchung über die Wellentheorie
entnommenen Sätze schreiten, müssen wir uns die Frage vorlegen, ob wir denn
überhaupt berechtigt sind, die Fluth und Ebbe als eine grossartige Wellen-
bewegung anzusehen, von welcher wir also auch erwarten können, dass sie sich
nach den Gesetzen, welche die mathematische Theorie ergiebt, richtet, wenigstens
insoweit, -als die, für die mathematische Behandlung nothwendigen, einfachen
Annahmen, als eine Repräsentation der in der Natur vorhandenen Verhältnisse
gelten dürfen. Wir können hier selbstrerständlich den Nachweis dafür nicht
vollständig liefern; wir begnügen uns damit, zu zeigen, dass wenigstens in zwei
Beziehungen, welche uns augenblicklich am meisten interessiren, die Fluthwelle
sich so verhält, wie eine theoretische Wasserwelle, nämlich mit Bezug auf die
Zeit‘ des Stromwechsels im Vergleich zu der Zeit des Hoch- resp. Niedrig-
wassers und in Bezug auf die Stromgeschwindigkeit, welche wir aus der Theorie,
genau mit der Beobachtung übereinstimmend, berechnen können.
Der erste Punkt ist nicht so leicht erledigt, wie man wohl glauben könnte,
weil es an Beobachtungen fehlt. Wir haben schon oben gesagt, dass an den
Küsten beobachtet wird, dass der Stromwechsel nahezu mit Hoch- und Nieärig-
wasser zusammenfällt, und haben die Ursache davon bereits angedeutet. Entfernt
von der Küste sind wohl Strömungsbeobachtungen, aber keine Beobachtungen
über .Eintrittszeit von Hoch- und Niedrigwasser vorhanden; es fehlt also das
eine Vergleichsmoment, und sind wir daher darauf angewiesen, die Zeit des
Stromwechsels mit der Zeit des Hochwassers an den nächsten Küstenpunkten
zu vergleichen, was allerdings nicht immer mit Sicherheit auszuführen ist.
Indess haben wir in Flüssen, also in so engen Kanälen, dass über die Gleich-
zeitigkeit von Hochwasser in der Mitte und am Ufer kein Zweifel sein kann,
mehrfache Beobachtungen, dass Hochwasser und Stromwechsel nicht gleichzeitig
sind, und zwar, dass der Unterschied grösser ist für diejenige Station, welche dem
Meere näher liegt, also auch die Fluthwelle weniger beeinflusst empfängt. So
giebt Airy an, dass in Deptford der Stromwechsel 37-—40 Minuten nach Hoch-
wasser und nach Niedrigwasser eintrete, und in Lentz’ „Fluth und Ebbe etoc.“,
8.36, finden wir für Cuxhaven den Stromwechsel zu 1St. 30Min. nach Niedrigwasser
und 1St. 25 Min. nach Hochwasser angegeben. Die Welle ist in beiden Fällen schon
e)
1) Eine bemerkenswerthe Illustration findet diese Behauptung durch die Angaben der „Tide-
tables“ betreffs der Strömungen über Hurds deep. Es ist‘ dies eine räumlich wenig ausgedehnte
(ca 40 Sm lange und 21/2 Sm breite), aber ‚tiefe Einsenkung des Meeresbodens nördlich von der
Insel Alderney und nordwestlich von Kap La Hague. . Während überall ausserhalb dieser Einsenkung
Strömungen von 2,6 bis 5 Sm, ja 4 Sm WNW von Kap La Hague, also dicht am Rande von
Hurds AU eine solche von 5 bis 7 Sm angegeben werden, beträgt die Geschwindigkeit des Stroms
über Hurds deep selbst nur 2,15 bis 2,40 Sm. Ferner ist bier der. Stromwechsel ein wenig früher,
als Hoch- und Niedrigwasser bei Dover, was darauf hindeutet, dass die Eintrittszeit von Hoch- und
Niedrigwasser am Ort gegen die Umgebung beschleunigt ist. Beides ist der plötzlichen Vermehrung
der Tiefe zuzuschreiben, welche einen Theil. der durch die Bodenbeschaffenheit. der Umgebung ein-
getretenen Beeinflussung der Welle wieder aufhebt.