Nordseezustand 2004
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3 Physikalische Ozeanographie
Die Nordsee ist ein relativ flaches Schelfmeer, das über die enge Straße von Dover im
Südwesten und eine weite Öffnung im Norden mit dem Nordatlantik verbunden ist. Die
komplexen hydrographischen Verhältnisse sind einerseits durch den nördlichen Ein
strom atlantischen Wassers mit Salzgehalten > 35, andererseits durch erhebliche
Süßwassereinträge über die Flüsse und den Ausstrom von salzarmem Ostseewasser
über das Kattegat / Skagerrak bedingt. In der geographischen Salzgehaltsverteilung,
die relativ geringen jahreszeitlichen Änderungen unterliegt, bildet sich die mittlere zy-
klonale Nordseezirkulation ab.
Während die gesamte Nordsee in der kalten Jahreszeit vertikal durchmischt ist, bildet
sich im Sommerhalbjahr in weiten Seegebieten, in denen sich die am Meeresboden
erzeugte Gezeitenstromturbulenz nicht bis in die winddurchmischte (Windsee und Dü
nung) Oberflächenschicht auswirkt, eine thermische Schichtung aus. Im Übergangs
bereich zwischen Oberflächen- und Bodenschicht, der sog. saisonalen Temperatur
sprungschicht, werden starke vertikale Temperaturgradienten beobachtet. Die Tiefe
und Ausprägung dieser Temperatursprungschicht bildet in der »Vegetationsperiode«
eine wichtige Randbedingung für biogeochemische Prozesse, die oberhalb (Produkti
on von Biomasse) und unterhalb der sperrenden Sprungschicht (Abbau) komplemen
tärer Natur sind.
Das BSH erfasst über sein marines Umweltmessnetz >MARNET< mit vier Messstatio
nen in der Deutschen Bucht, eine Vielzahl von Küsten- und Hochseepegeln und Eis
beobachtungsstationen, aber auch durch Nutzung der Fernerkundung für den Nord
seezustand relevante Messdaten. Besondere Bedeutung kommt der schiffsgebunde
nen räumlichen Umweltüberwachung zu, bei der viele physikalische und chemische
(auch biologische) Variablen gleichzeitig an identischen Positionen bestimmt werden,
so dass eine interdisziplinäre Interpretation und Bewertung möglich wird. Insbesonde
re die seit 1998 in den Sommermonaten zum Zeitpunkt maximaler Schichtung mit dem
Forschungsschiff Gauß durchgeführten Gesamtaufnahmen der Nordsee bilden eine
wichtige Voraussetzung für die Einschätzung des Nordseezustands. Durch solche
quasi-synoptischen und systematischen Beobachtungen wird eine Datenbasis ge
schaffen, die nicht nur die räumlichen und zeitlichen Veränderungen des Nordseezu
stands dokumentiert und interpretierbar macht, sondern auch für die Validierung hy
drodynamischer und ökologischer Modelle Relevanz hat.
In den anschließenden Unterkapiteln werden die Besonderheiten der wesentlichen
ozeanographischen Zustandsvariablen - nämlich Strömungen, Temperatur und Salz
gehalt - im Jahr 2004 dokumentiert und eingeordnet. Ferner werden Seegangs- und
Meereisverhältnisse, aber auch integrale Zustandsgrößen wie Volumentransporte
durch die Nordseeeingänge und Zirkulationsmuster in der Deutschen Bucht behan
delt. Großer Wert wird dabei stets auf prozessorientierte Interpretationen gelegt, in
dem ursächliche Zusammenhänge sowohl zwischen den diversen ozeanographi
schen Zustandsanomalien selbst, als auch mit externen Anomalien des atmosphäri
schen Zustands aufgezeigt werden. Der Regimecharakter der Nordseetemperatur,
dem auch hinsichtlich der Artenzusammensetzung besondere Bedeutung zukommt,
wird im Abschnitt Mischmasch-Klima im Zusammenhang mit regimetypischen Luft
druckverteilungen und Windbedingungen diskutiert, deren Charakter sich auch der
Langzeitentwicklung des Wasserstands aufprägte.