Nordseezustand 2004
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1 Einführung
Ein ganzheitliches Verständnis der Prozesse, Abhängigkeiten und Wechselwirkungen
im System Nordsee ist erforderlich, um das Ausmaß menschlicher Eingriffe effektiv zu
kontrollieren, Schäden zu begrenzen und wirksame Gegenmaßnahmen zu ergreifen.
Ein in diesem Sinn nützlicher Zustandsbericht darf sich nicht auf Zustandsdokumen
tation beschränken, sondern muss Zustandsveränderungen und -anomalien identifi
zieren und weitestmöglich aus dem Zusammenwirken der Systemelemente bzw. der
Funktionalität des Systems interpretieren und bewerten.
Der komplexe Systemzustand der Nordsee ist durch physikalische, chemische und bi
ologische Zustandsgrößen beschreibbar. Den physikalischen Zustand bestimmen sie
ben Zustandsvariablen, die den Kern jedes hydrodynamischen Modells bilden: drei
Strömungskomponenten, Druck, Temperatur, Salzgehalt und Dichte. Beispiele für
chemische und biologische Zustandsvariablen sind Konzentrationen von Nährstoffen,
Schadstoffen, Schwebstoffen und Plankton.
Eine integrale Zustandsbewertung erfordert Kenntnisse über das zeitliche Verhalten
des Systems im Kontext von Prozessen, Wirkungsketten und Rückkopplungen. Syste
matische und langfristige Beobachtungen und deren Umwandlung in nützliche Infor
mation durch Datenkompression, Filterung, Integration, Klassifizierung etc. sind des
halb Grundvoraussetzung für belastbare Bewertungen. Beobachtungen sind jedoch
nie flächendeckend oder zu jedem Zeitpunkt verfügbar. Für eine Vervollständigung der
Zustandsanalyse werden deshalb auch numerische Modelle genutzt, die Beziehun
gen zwischen den diversen Zustandsvariablen realisieren.
Eine ganzheitliche Darstellung des vernetzten Zustands der Nordsee in einem linea
ren Text ist problematisch. Um die Notwendigkeit des Verweisens auf andere Berichts
teile zu begrenzen, ist der Aufbau so strukturiert, dass Vorwärtsverweise möglichst
vermieden werden. Ursache für die Veränderlichkeit des physikalischen Nordseezu
stands ist der variable atmosphärische Antrieb. Eine Rückwirkung des Meeres auf die
Atmosphäre wird vernachlässigt. Ebenso verhalten sich viele polare chemische Stoffe
gegenüber dem physikalischen Zustand passiv: Sie verteilen sich in Abhängigkeit vom
Strömungszustand, ohne selbst auf die Strömung Einfluss zu nehmen. Die Richtung
der skizzierten Wirkungskette Atmosphärenphysik => Meeresphysik => Meereschemie
spiegelt sich in der Abfolge der Kapitel. In den Unterkapiteln werden die Themen,
wenn möglich und sinnvoll, vom Aktuellen zum Historischen und vom Groß- zum
Kleinräumigen hin abgehandelt. Die Deutsche Bucht als Subsystem der Nordsee wird
jeweils im Anschluss an diese betrachtet, lokale Zeitserien werden gewöhnlich ans
Ende gestellt.
Der Zustand der Atmosphäre hat erhebliche Bedeutung für den Zustand des Meeres
und dessen Verständnis. Der Bericht wurde deshalb um eine Wetterlagenstatistik und
eine Analyse der Luftdruckfelder im Meeresniveau erweitert.
Im Abschnitt Meeresphysik werden die wichtigsten ozeanographischen Zustandsgrö
ßen diskutiert. Er enthält Beiträge zu Meeresströmung, Seegang, Wasserstand und
Salzgehalt. Da sich Meereis als negative Temperatur (bzw. Temperatur als negatives
Eis) auffassen lässt, findet man Informationen zum Meereis abweichend vom Vorjah
resbericht im Abschnitt Temperatur. Der Regimecharakter der Nordseetemperatur,
dem auch hinsichtlich der Artenzusammensetzung besondere Bedeutung zukommt,
wird im Zusammenhang mit regimetypischen Windbedingungen diskutiert.